Aufbruchsstimmung (1)
In der zweiten Hälfte des Jahres 1980 waren die vorher weitestgehends unbeachteten Punks nach der Berichterstattung (sehr wohlwollend ausgedrückt, "medialer Amoklauf" wäre eine treffendere Bezeichnung) über die Pöseldorfer Ereignisse in aller Munde (ein altes Foto dazu aus der Illustrierten "Der Spiegel" habe ich dazu auch noch gefunden), wurden als neuer "Bürgerschreck" hochstilisiert. Aber die allgegenwärtige Abschreckungspropaganda hatte auch einen unbeabsichtigten positiven Nebeneffekt. Rebellionsfreudige Jugendliche fühlten sich von den jungen Menschen vor denen die ältere Generation inbrünstig warnte angezogen und bewirkten einen verstärkten Zulauf zu den Punkszenen der einzelnen Städte. Zudem sorgten die Fanzinemacher durch sogenannte Austauschabos für eine bundesweite Vernetzung (Labermeia: Das war schon recht extrem, in jener Zeit lagen täglich 1 – 3 Briefe von Punks aus ganz Deutschland in meinem Kasten. Um Porto zu sparen verwendeten manche unabgestempelte Briefmarken aus einer Sammlung, und einmal lag sogar ein Brief mit Adolf Hitler-Marke dort.). So konnten Informationen über geplante Konzerte sehr rasch verbreitet werden. Als einer der erlebnistechnischen Höhepunkte jenes Jahres entpuppte sich ein im August 1980 im Duisburger Eschhaus stattfindendes und von Willi Wucher organisiertes Punkfestival. S. und ich fuhren ebenfalls dorthin und berichteten darüber im Tiefschlag #4, dessen Druckvorlagen schon im Winter 1980 fertig waren, das Fanzine aber wegen diverser Schwierigkeiten mit dem Druck erst im Januar des Folgejahres erscheinen konnte. Aber genug der erklärenden Einleitungen, hier der angekündigte Originalartikel:
16.08.1980 Duisburg Eschhaus
Wir, S. und ich, fuhren schon ziemlich früh los, um acht Uhr trafen wir uns in Siegburg am Bahnhof, setzten uns in den Zug, kauften in Köln noch schnell Bier und liefen um halb zehn in Duisburg ein. Aufm Bahnsteig wurde S. wegen seines FC-Halstuches von irgendwelchen Fußballfreaks angemacht, also verzogen wir uns schnell runter in den Bahnhof. Vor diesem stand schon eine ganze Horde Punx, wir gesellten uns dazu und tranken erstmal ein Bier mit. Der Tach begann also schon ganz gut, einige Flaschen gingen ganz zufällig zu Bruch und die ganzen Spießer bekamen vom vielen Glotzen beinahe Stielaugen. So um zehn Uhr kam dann das Empfangskomitee des Ungewollt an, Willi fragte jeden aus und wir bekamen dann endlich erklärt, wo man in dieser schönen Stadt den Rock On finden kann. Also zogen wir ab um uns voll und ganz dem Konsum zu widmen. Der Rock On war schnell gefunden, dort habe ich mich dann erstmal mit Singles und Fanzines eingedeckt. Als wir später dann auf so einem Platz auf so einer Bank saßen, kam eine Horde Punx herangewackelt, es waren, wie es sich später herausstellte, Münchner Punx, einige aus Rinteln sowie einer vom Ungewollt (Wer war das?).
Nun, da wir wieder mehrere Mann waren, gingen wir erstmal in den Kaufhof oder so einen ähnlichen Fuckladen um uns im Alkohol einzudecken. Dabei verloren wir wieder einige Leute, die in dem Gedränge einfach verschwanden, S. musste draußen natürlich gleich wieder eine Diskussion mit einem Kommunisten anfangen und beweisen, dass er ja vom Gymnasium kommt und sehr gebildet ist. Schließlich ging es weiter, einfach so durch die Stadt. Langsam wurden S. Bierflaschen immer leerer und er immer voller. Irgendjemand prophezeite ihm, dass er, wenn er so weitermache den Abend nicht mehr erleben würde. Wie wahr.
Der Vormittag wurde jedenfalls noch sehr lustig, und unter der Führung von Jet Blitz aus Rinteln stürmten wir einen Sex-Shop, in dem es sehr amüsant zuging, auch praktizierte und zeigte uns S. in einen Tschibo-Kaffeebar, wie man in Troisdorf Kaffee trinkt und die Leute belästigt. Kaffee sollte man ja eigentlich trinken und nicht mit Kölsch und Rotze vermischt in einem feinen Laden verspritzen! Im Duisburger McDonalds waren die Leute erst recht begeistert von uns, da wir uns an den Werbespruch "Essen mit Spaß" hielten und eine kleine feine Fressorgie abzogen. Unsere Destruktivität und Chaotik an diesem Tag war ein einfach herrlich, wir kamen nie aus dem Lachen heraus. Schließlich zogen wir dann doch noch zum Eschhaus, es war so um die Mittagszeit und es waren noch nicht allzu viel Leute da, die Anlage wurde gerade aufgebaut und wir packten auch ein bisschen an.
Um drei - vor dem Eschhaus lungerten jetzt schon bestimmt zwanzig bis dreißig Punx rum - gingen S. und ich mal wieder in die Innenstadt um irgendwo neues Bier zu holen. Vor dem Rock On trafen wir einen Punk aus Hamborn oder so, der meinte, dass um vier die Dortmunder und Düsseldorfer Punx am Bahnhof eintreffen werden. Also latschten wir wieder zum Bahnhof, wo es bekanntlich ja immer Bier gibt. Vor dem Bahnhof trafen wir dann eine Horde Dortmund-Punx, die uns mitteilten, dass der Rest um Vier kommen würde. Wir gingen erstmal rein, kauften uns Bier und setzten uns vor den Bahnhof. Bald trudelten die ersten Leute ein, es wurde für eine Flasche Wodka zusammengelegt und als so ungefähr schon sechzig Leute zusammenwaren zogen wir alle durch die Innenstadt zum Eschhaus. Man, war das ein Gefühl, mit so einer großen Horde Punx zu marschieren. So etwas ist man in Bonn nicht gewohnt. Alle Spießer bekamen einen Horror, als sie diesen großen Haufen schrecklich gekleideter Jugendlicher sahen. Ist das Deutschlands Jugend?
Als ich dann die Menge vorm Eschhaus sah war ich doch ziemlich überrascht. Da saßen bestimmt schon zweihundert Punx herum. Mit so einer riesigen Menge hatte ich ja überhaupt nicht gerechnet, und dauernd trafen neue Leute ein. Für mich begann erstmal die Arbeit, ich versuchte zusammen mit Jet Blitz vom Fanzine Sturm Frei die Leute zu überzeugen, dass Sturm Frei und Tiefschlag die besten Pogo-Fanzines Deutschlands seien und sie doch ein Exemplar kaufen sollten. Nach dieser schweißtreibenden Arbeit und dem stundenlangen Gelabere mit tausend Leuten merkte ich plötzlich, dass S. nich mehr aufzutreiben war. Der wollte sich wohl vor dem Verkaufen drücken! Ich fand ihn oben im Eschhaus auf einem Sessel, er hatte wohl zu viel Wodka getrunken, jedenfalls war er total zu und pennte fest und tief den Schlaf einer Schnapsleiche, jegliche Wiederbelebungsversuche waren zwecklos.
Durch diesen ganzen Scheiß hatte ich die erste Gruppe verpasst, aus Osnabrück sollten ganz gut gewesen sein. Aber danach habe ich dann die Gruppe des Abends gesehen:! Mit Willi Wucher am Schlagzeug, der nach jedem Song aufstand und sich feiern ließ, einem besoffenen Sänger und einem total brutal pogoden Publikum. Ich glaube sie spielten nur Pistols-Songs nach, aber wie sie das machten war hervorragend. Es hörte sich ziemlich stümperhaft an, der Trunkenbold am Mikro eumelte nur so durch die Gegend, d.h. mal lag er auf der Bühne, mal hing er am Mikro usw. Es wurde viel gerotzt, vom Publikum wie auch von der Gruppe, Bierflaschen, Büchsen und sogar ein Turnschuh flogen durch die Gegend. Alle waren begeistert, selbst der Pogohasser Walter Willenlos vom Frankfurter Zine N.O.E. war begeistert. Jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie einer der Auftritte der Pistols 76 im 100 Club ausgesehen hat. Danach waren alle geschafft, außerdem konnte man den Saal gut als Sauna vermieten, es war so heiß darin, dass mir fast das Bier aus der Flasche verdampft wäre hätte ich nicht schnell alles ausgetrunken.
In der hiesigen Regionalpresse fanden die Duisburger Ereignisse kaum Erwähnung, waren nur der Boulevardzeitung Express eine Randbemerkung wert. (Labermeia: Wie unaufgeregt die Presse damals reagierte... Heute würde ein solches Ereignis bestimmt einen Empörungstsunami auslösen, bestehend aus Eilmeldungen, Extraausgaben und Sondersendungen mit Interviews von Anwohnern und Überlebenden...) Am meisten verwunderte es mich, dass Punks in diesem Bericht wieder einmal als Rocker bezeichnet wurden. Eigentlich war diese falsche Bezeichnung nur bis zu den im Mai des Jahres 1980 stattgefundenen Pöseldorfer Krawallen die Regel, konnten bis dahin Journalisten meist die auffällig gekleideten Jugendlichen nicht einordnen und verwendeten die für aufsässige Subkulturen gängige Pauschalbezeichnung Rocker (selbst gewalttätige Fußballfans wurden in der Regel als Fußball-Rocker bezeichnet). Die danach einsetzende Medienhetze hatte indirekt einen weiterbildenden Nebeneffekt in der Bürgerszene. Selbst die jeden Tag an der Bushaltestelle der damals von mir bewohnten Sozialwohnungssiedlung herumlungernden Jugendlichen pöbelten mich nach Pöseldorf stets einordnungstechnisch korrekt nur noch als "Punkerschwein" und nicht mehr als "Rocker" an, und sogar ältere Frauen hatten ihren Wissensstand aktualisiert und beschimpften meine Mutter nun als "Punkermutter" (das passierte nicht nur einmal, sondern kam mehrmals vor). Bei der hiesigen Lokalpresse war es anscheinend nicht so. Manche Journalisten lebten wohl in der Vergangenheit, wie der Verfasser dieses Zeitungstextes, an dem die aufklärerische Bildungswoge wirkungslos vorbeigegangen war und der das tägliche Geschehen weiterhin in althergebrachte und inzwischen überholte Kategorien einordnete.
Als näxtes traten Clox auf die Bühnenbretter, und nach einer kurzen Rede von Steve kamen langsam die anderen Bandmitglieder auf die Bühne und sie begannen genauso mitreißend wie aufm Sommerfestival in Düsseldorf. Leider hielt ich es nicht mehr lange im Saal aus, die asoziale Hitze trieb mich raus ins Freie. Dort vor dem Eschhaus sah es wüst aus, die Straße war von den Scherben von hunderten von Bierflaschen übersät, auch hatte irgendein Mensch dort einen Feuerlöscher entleert, so dass ich zuerst dachte es hätte geschneit.
Plötzlich hielt in einiger Entfernung ein Bullenwagen, und sofort gingen einige Punx darauf zu und redeten mit denen. Die Bullen hauten bald wieder ab, kamen aber auch schnell wieder und hielten diesmal genau vorm Eingang zum Eschhaus. Nach einigen Hin und Her-Gerede flippten die Bullen plötzlich aus und zerrten einen Punk in den Wagen und stellten sich stolz vor die Autotür. Irgendeiner brüllte: "Drauf", und so standen dann gut fünfzig Punx um das schöne Auto herum. Während einige auf die Bullen einredeten, öffneten andere auf der anderen Seite des Wagens die Tür und befreiten den Gefangenen, der sich verständlicherweise sofort ins Eschhaus zurückzog. Die dummen Gesichter der Bullen werde ich nie vergessen, als sie bemerkten, dass man ihren Gefangenen geklaut hatte. Deshalb waren sie wohl auch sauer und hauten ab.
Aber auch diesmal dauerte es nicht lange bis sie wiederkamen. Diesmal kamen noch mehr Bullen, ein paar Streifenwagen und zwei oder drei Mannschaftswagen. Alle Punks standen zuerst stumm herum und schauten sich dieses Schauspiel der Staatsgewalt an, einige lärmten jedoch weiter rum, was die Bullen wohl wieder dazu veranlasste ihre wilden fünf Minuten zu bekommen. Plötzlich schwärmten sie aus und schnappten sich willkürlich Leute aus der Menge, führten sie brutal ab und steckten sie in einen Mannschaftswagen. Sofort gab es ein großes Gedränge an der Tür, jeder wollte seine eigene Haut retten. Aber es wurden auch schon einige Wutschreie ausgestoßen, als man sah, wie brutal die Scheißbullen gegen die Punx vorgingen, so wurde zum Beispiel eine Punkette von sechs oder mehr Bullen mit Schlägen traktiert und dann brutal in der Wagen gestopft.
Die erste Gegenreaktion erfolgte aus dem Eschhaus selbst. Oben an den Fenstern hatten einige Leute alles mitgekriegt und warfen nun eifrig Flaschen und solche Nettigkeiten auf die Bullen und Bullenwagen herunter, was dazu führte, das auch die Menge vor dem Eschhaus ihre Angst verlor und immer wütender wurde.
Inzwischen hatten die Ordnungshüter aufgehört, Punx festzunehmen und stiegen in die Autos ein und versuchten, wieder abzuhauen, während ein Teil von ihnen Rückendeckung geben sollte. Jedenfalls steigerte sich der Hass auf die Bullen in einen lauten Wutschrei und plötzlich stürzten gut fünfzig bis hundert Mann auf den Wagen zu in dem die Gefangenen saßen und begannen, wie bekloppt darauf einzutreten und zu schlagen. Der Wagen hielt an, und sofort setzten sich einige Punx vor das Auto um es am weiterfahren zu hindern, gleichzeitig brüllten sie, dass sich auch einige Leute hinter das Auto setzen sollten. Bis die das aber kapiert hatten, hatte der Fahrer den Rückwärtsgang eingelegt und fuhr einen halben Meter zurück. Die Punx vor dem Wagen sprangen auf, brüllten, und wollten hinter den Wagen laufen, als der plötzlich losfuhr. Wer da nicht schnell genug zur Seite sprang, lief Gefahr, einfach über den Haufen gefahren zu werden.
Der Wagen entkam, aber einige Bullen sperrten die Straße mit ihren Autos ab und verbarrikadierten sich dahinter. Da ging es erst richtig los. Die Punx stellten sich um sie herum und beschimpften die Bullen, während von hinten alles Mögliche angeflogen kam, Stuhlbeine, Pflastersteine, Flaschen usw... So ging es dann die ganze Zeit weiter, irgendwann hauten die Bullen dann wieder ab und hinterließen gutunterhaltene Bürger auf den Balkonen der gegenüberliegenden Häuser, die wohl alle ihren Tatort ausgeschaltet hatten und sich mit einer Flasche Bier auf den Balkon gesetzt hatten, weil auf der Straße ja ein viel besseres Programm geboten wurde.
Nachdem die Bullen weg waren, wartete noch eine große Menge Punx darauf, dass die Bullen wiederkamen, doch sie kamen nicht mehr. Später tauchte noch ein Typ mit einer erbeuteten Bullenmütze auf, laut Gerüchten nach soll es einer von den Razors gewesen sein. Den Gag des Abends lieferte jedoch S., der, nachdem er erstmal gründlich gereihert hatte, wieder einigermaßen nüchtern war und plötzlich während des größten Getümmels auf der Straße umherirrte, zu einem Bullen ging und fragte wie der 1. FC Köln gespielt hatte und dann mit ihm aber Fußball laberte!
Als die Bullen weg waren, ging ich wieder mal hoch um etwas Musik zu hören. Da ja die Gruppen alle weitergespielt hatten, bekam ich nur noch wenig mit, ich sah/hörte nur noch von Hass aus Marl den Song Langeweile, der mir sehr gut gefiel, ein astreiner Pogosong. Aber leider war es im Saal noch heißer geworden und ich hatte auch keine Lust mehr zu gar nichts. Also latschten wir noch einmal zum McDonalds was essen und setzten uns danach in den Zug Richtung Heimat, und ich musste mir die ganze Heimfahrt lang die Wehklagen von S. anhören, der sehr bedrückt war, da er sich seine ganze schöne Lederjacke vollgekotzt hatte.
Dass die damaligen Auseinandersetzungen mit der Polizei wie im Kasten erwähnt in der überregionalen Presse nur wenig Beachtung fanden ist mit den sonstigen Geschehnissen in dieser Zeit leicht erklärt. Im Vergleich zu den Krawallen die sich Anfang der Achtziger bei Hausbesetzerdemonstrationen in Berlin, an diversen Atomkraftwerkbaustellen oder bei den in verschiedenen Städten stattfindenden öffentlichen Rekrutengelöbnissen ereigneten, waren die Duisburger Ereignisse ähnlich folgenreich und aufsehenerregend wie eine mittelschwere Kirmesboxerei. Zum Beispiel zeigt die zweite EP der Hamburger Band Buttocks auf dem Cover ein Bild das bei den Ausschreitungen anlässlich eines öffentlichen Rekrutengelöbnisses im Mai 1980 in Bremen entstand (also das große im Hintergrund, nicht das kleine Foto unten links). Dort war es wirklich heftig abgegangen und über 200 Polizisten bei den Krawallen verletzt worden. Dagegen waren die Duisburger Geschehnisse nur wenig erwähnenswert. Heutzutage wäre dies natürlich anders, ist die Medienlandschaft weitaus umfangreicher und durch die gestiegene Konkurrenz merklich sensationslüsterner geworden, so dass so manche kleine Schlägerei zu einem beginnenden Bürgerkrieg aufgeblasen wird.
Naja, verlassen wir nun die Thematik der geänderten medialen Betrachtungsweisen und schauen wir wieder in die Zukunft, bzw. auf den nächsten und kommenden Blogartikel. Diesmal möchte ich dann einen Konzertbericht vom im gleichen Monat stattgefundenen ersten WISCHI WASCHI-Festival wiederveröffentlichen. Es war die erste größere Punk/New Wave-Veranstaltung in Bonn, wurde in den Folgemonaten noch zweimal wiederholt (diese Konzertberichte kommen dann auch noch) und fand im Herbst 1981 unter den Knüppelhieben einer wildgewordenen Rockergruppe sein abruptes Ende. Der dazugehörige Tiefschlag-Artikel ist bestimmt nicht nur für damals Dabeigewesene interessant…